Wenn es um Klimawandel, Umweltzerstörung, Naturverbrauch und andere zentrale Zukunftsfragen geht, ist man stets mit demselben Sachverhalt konfrontiert: Das Wissen über die Probleme ist
außerordentlich verbreitet, aber fast niemand handelt so, wie es seinem Wissen entsprechen würde. Das allerdings ist völlig normal: Da wir alle in einer Welt mit widersprüchlichen Anforderungen
leben, lernen wir, uns widersprüchlich zu verhalten. Und da wir zudem in einer nicht-nachhaltigen Welt leben, die nicht-nachhaltige Weisen des Reisens, der Ernährung, des Arbeitens, des Wohnens
gegenüber nachhaltigen bevorzugt und subventioniert, ist es wenig verwunderlich, wenn Menschen sich nicht-nachhaltig verhalten, obwohl sie wissen, dass das „eigentlich“ schlecht ist.
Aber das »eigentlich« hat keinen Ort in den Zeitvorgaben kapitalistischer Hyperkonsumgesellschaften, in denen es von allem immer mehr immer schneller geben soll. Denn diese Gesellschaften drehen
sich ausschließlich um die reine Gegenwart und suchen die Spanne zwischen Bedürfnis und Befriedigung so weit zu verkürzen, dass tatsächlich am Ende weder Vergangenheit noch Zukunft zählen,
sondern nur das schiere verantwortungslose und daher zukunftsfreie Jetzt. Glücklich, wer darin leben darf. Wer nicht, hat eben Pech gehabt.
Wir haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten gleichwohl zwei tiefgreifende Verhaltensveränderungen gesehen, die – obwohl das niemand für möglich gehalten hätte – Alltagsroutinen radikal
verändert haben. Die eine betrifft das Rauchen. Wer wie ich in den 1960er Jahren Kind gewesen ist, erinnert sich an stundenlange Autofahrten mit zwei in aller Selbstverständlichkeit
kettenrauchenden Eltern auf den Vordersitzen; kein Fernsehfilm, keine Diskussion, kein Restaurant, keine Wartezeit ohne Zigaretten. Heute ist das, und nur aufgrund einer schlichten
ordnungspolitischen Maßnahme, völlig anders. Kaum jemand kommt noch auf die Idee, im Auto zu rauchen, wenn Kinder mitfahren, öffentliche Räume sind rauchfrei, die Vorstellung, dass im Restaurant
am selben Tisch zur selben Zeit gegessen und geraucht wird, erscheint total abwegig. Hier hat sich ein Verhaltensstandard in dramatisch kurzer Zeit nachhaltig verändert, und zwar politisch
gesteuert.
Eine noch tiefgreifende Veränderung eines Verhaltensstandards erleben wir, seit es sogenannte smartphones gibt, die das kommunikative Verhalten von Menschen, ja, ihre Wahrnehmungsweisen und ihre
Sozialität tiefgreifend beeinflusst haben, ohne dass es dafür eines ordnungspolitischen Anstoßes bedurfte.
Was ich mit diesen beiden sehr unterschiedlichen Beispielen hervorheben möchte, ist dasselbe, was Michael Kopatz in seinem wichtigen Buch umtreibt: Verhalten ist weder durch Wissen bestimmt noch
durch Tradition determiniert, sondern jederzeit veränderbar: Entscheidend für diese Veränderung ist aber nicht Aufklärung, sondern eine ihrerseits veränderte Praxis.
Deshalb entwirft er ein Rahmenwerk für eine Gesellschaft, in der „Öko“ nicht die sonderbare und jeweils erklärungs- und legitimationsbedürftige Abweichung vom normalen, also nicht-nachhaltigen
Verhalten ist, sondern der normale, erwartbare Verhaltensstandard. Und er zeigt, wie eine solche Welt nicht nur aussehen würde, sondern mit Hilfe welcher ordnungspolitischen Maßnahmen – von der
soften Präferenzverschiebung über den Subventionsabbau bis zur harten gesetzgeberischen Initiative – sie auch tatsächlich herzustellen wäre. Damit macht Kopatz etwas Überfälliges und, wie man
beim Lesen mit wachsender Faszination bemerkt, ganz und gar Sinnvolles: Er hält sich nicht lange bei ökokatastrophischen Befunden und verwundertem Lamentieren über mangelnde
Veränderungsbereitschaften auf, sondern zeigt anschaulich, wohin sich eine moderne Gesellschaft bewegen muss, wenn sie Nachhaltigkeit als selbstverständliche Routine etablieren möchte.
Tatsächlich liefert er ein Manual zur ökologisch vernünftigen Transformation der ökologisch ganz und gar unvernünftigen Praxis der Gegenwart – um Zukunft wiederzugewinnen. Man muss sie nur
wollen.
Harald Welzer, im Mai 2016